Die Nachricht stand am 11. März 2015 auf WZ online: Bei der Polizei in Wuppertal seien 2014 im Vergleich zu 2013 weniger Straftaten angezeigt, dabei aber mehr geklärt worden als im Vorjahr. Für die meisten Wuppertaler bedeutet das wohl: Es ist nun sicherer in der Stadt. Schließlich stützt sich die Meldung auf die am Vortag veröffentlichte »Polizeiliche Kriminalitätsstatistik« (PKS). Indessen ist sie ein Lehrstück über die Falschinterpretation von Zahlen.
Es geht nicht um perfide manipulierte Werte, die sich irgendwer im Präsidium ausdenken würde. In welcher Form die Zahlen zu erheben, zusammenzufassen und in den PKS darzustellen sind, legt eine Richtlinie des BKA fest. Zwar sind, wie bei jeder Statistik, Spielereien möglich. Aber das Grundproblem ist, dass die meisten die PKS falsch verstehen. Selbst große Medien scheitern regelmäßig an ihr. Daher gleich hier: Die PKS ist kein Abbild der Kriminalität. Welche Vergehen und Verbrechen in der Stadt geschehen, soll das Zahlenwerk gar nicht beschreiben. Es ist seit jeher einzig die jährliche Arbeitsbilanz der Polizei. Sie zeigt, auf welchen Deliktfeldern die Behörde in welcher Form tätig war.
Hohe Fallzahlen können ein Hinweis auf ein Kriminalitätsproblem sein, müssen es aber nicht. Womöglich hat die Kripo sich schlicht auf bestimmte Delikte besonders stark konzentriert. Wohnungseinbruch und Extremismus sind Schwerpunktfelder in Wuppertal – momentan. Je nach Erfordernis wird variiert, was regelmäßig zu statistischen Verschiebungen führt. Schließlich können die Beamten nicht überall gleichzeitig sein und wo sie stärker hinschauen, entdecken sie in der Regel mehr Straftaten. Allein schon, weil die Polizei dabei nur einen Teil der tatsächlichen Kriminalität aufdecken kann und das Dunkelfeld weiter unbekannt groß bleibt, kann die PKS kein Abbild der Wirklichkeit sein. Kriminologen gehen davon aus, dass etwa Sexualstraftaten und häusliche Gewalt nur in Ausnahmefällen in der Statistik landen, weil sie der Polizei selten bekannt oder erst auf Strafantrag verfolgt werden, den die Opfer oft scheuen. Auch bei Geringfügigerem, etwa Beleidigungen oder kleinem Diebstahl, gelangt vermutlich nur ein Bruchteil aller begangenen Taten in der PKS: Schließlich ruft man nicht für jedes »Idiot!« gleich nach der Staatsmacht, auch nicht für jedes gestohlene Kaugummi.
Weitere Ungenauigkeiten kommen zustande, weil die PKS eine »Ausgangsstatistik« ist. Das bedeutet, ein Fall wird erst dann für das Zahlenwerk erfasst, wenn er nach ersten Ermittlungen im Postausgangskörbchen an die Staatsanwaltschaft liegt. Ermittelt also eine personalstarke Ermittlungsgruppe seit Anfang 2014 gegen eine Rauschgiftbande, auf deren Konto 200 Einzeltaten des Drogenschmuggels gehen, übermittelt die Akten aber erst Anfang 2015 an die Staatsanwaltschaft, tauchen alle 200 Fälle in der PKS für 2015 auf, keiner jedoch in der für das Jahr davor. Die tatsächliche Kriminalität kann die fälschlicherweise oft als Lagebild interpretierte Statistik also schon wegen der zeitlichen Verzerrung zwischen der Tat einerseits und der verzögerten statistischen Erfassung andererseits nicht abbilden.
Solche statistischen Verschiebungen lassen sich teilweise sogar durch bewusstes polizeiliches Handeln herbeiführen: So genannte »Kontrolldelikte« wie Drogenhandel und -konsum werden nahezu ausschließlich dann erfasst, wenn die Polizei von sich aus tätig wird und Repressionsdruck auf Dealer und Konsumenten ausübt. Überprüfen die Beamten die Drogenszene besonders stark, steigen die Fallzahlen der PKS. Kontrolliert sie lascher, gibt es weniger Fälle. Dass bei 1237 erfassten Rauschgiftdelikten 2014 und 767 Rauschgiftdelikten 2011 in Wuppertal heute mehr gekifft, gefixt und geschluckt wird als früher, wäre schon daher die falsche Interpretation der PKS. Hinweise darauf, dass die Polizei in Wuppertal die Statistik mittels solcher Kontrolldelikte bewusst beeinflusst, gibt es nicht.
Viele Kontrolldelikte wie jene aus dem Betäubungsmittelgesetz bringen eine weitere Besonderheit mit sich: Sie eignen sich perfekt für eine hohe Aufklärungsquote, die sich öffentlichkeitswirksam feiern lässt. Stets mehr als 90 Prozent Aufklärungsquote weist die PKS in Wuppertal in den vergangenen fünf Jahren bei den Drogendelikten auf. Der Grund dafür ist überraschend einfach: Ohne Täter gibt es in der Regel keine Tat. In den meisten Fällen wird der Dealer oder Konsument mit der Droge erwischt. Der Beamte, der einen Joint rauchenden Kiffer in flagranti am Haken hat, bringt also nicht nur einen Fall zur Anzeige, sondern hat ihn direkt auch aufgeklärt. In Masse führen solche Fälle zu einer brillanten Erfolgsquote – und zu tollen Schlagzeilen: »Polizei klärt jede zweite Straftat auf«.
Mit »aufgeklärt« ist es allerdings so eine Sache, denn der Bürger versteht darunter gemeinhin etwas anderes als die Polizeibürokratie. Nach allgemeinem Verständnis ist eine Tat dann aufgeklärt, wenn man weiß, was passiert ist und wer es getan hat. Immerhin ist laut Gesetzt nur derjenige ein Täter, der rechtskräftig verurteilt wurde. Zahlen darüber sind in der weithin unbekannten Strafverfolgungsstatistik zu finden. Die Polizei indes macht es sich deutschlandweit einfacher und nennt jeden Fall »aufgeklärt«, in dem sie der Staatsanwaltschaft einen Verdächtigen präsentiert. Dass in der PKS für Wuppertal 2014 18.275 Fälle als »geklärt« auftauchen (175 mehr als im Jahr davor), hat also wieder mit der Lebenswirklichkeit wenig zu tun.
Ein weiteres Beispiel zeigt, wie wenig das amtliche und mediale Gejubel über Aufklärungsquoten taugt: Kommt Max auf die Wache und zeigt an, Klaus habe ihm ins Gesicht geschlagen, ist das für die Polizei – wenn sie Max nicht direkt in Richtung Privatklageweg abwimmelt – ein super Schnitt in der Kriminalitätsbekämpfung: Eine Anzeige, ein benannter Tatverdächtiger, der Fall ist geklärt. Ob Klaus wirklich gewalttätig war hat oder Max das nur behauptet, ist völlig egal. Würde er sagen, Klaus habe in den vergangenen Wochen schon zweimal zugeschlagen, wäre das sogar eine Art statistisches Highlight: drei unabhängige Taten, drei aufgeklärte Fälle. Dass die Polizei bei 3363 Fällen von Gewaltkriminalität im Jahr 2014 ganze 86,5 Prozent als geklärt verzeichnet, liegt also unter anderem eben daran, dass ihr die angeblich Tatverdächtigen mitgeliefert werden.
Auch das ist kaum bekannt: Als »geklärt« gelten in den Kommissariaten sogar solche Taten, die der kriminalistische Sachbearbeiter einem Tatverdächtigen nur aufgrund von Indizien zuordnet, etwa anhand einzigartiger Tatbegehungsmerkmale, des »Modus Operandi«: Überführen Kripobeamte einen Wohnungseinbrecher, der beim Türaufbruch mit einem violetten Brecheisen Farbauftragungen an der Tür hinterlassen hat, können sie ihm auch alle anderen 26 Einbrüche mit lila Farbsplittern an der Zarge zuordnen, bei denen sie bislang völlig im Dunkeln tappten. Für die Statistik: 27 Einbrüche sind geklärt. Zur Ehre der Kriminalbeamten sei jedoch angemerkt, dass sie meist ganz genau wissen, wann Indizien eine solche Tatzuordnung begründen.
»Aufgeklärt« ist nur ein Beispiel aus einem Wortschatz, der der Polizei hilft, eigene Erfolge besonders eindrucksvoll darzustellen. »Täter« ist ein weiterer. In Wuppertal überschreitet das Präsidium immer wieder die Grenze der gesetzlichen Unschuldsvermutung, wenn es in Pressemitteilungen oder auch in der PKS Tatverdächtige zu »Tätern« abstempelt. Wortklauberei, könnte man sagen – doch solch selbstbewusste Formulierungen zeigen, wie kommod es sich die Behörde in der ihr überlassenen Deutungshoheit über die Kriminalitätslage in der Stadt eingerichtet hat.
Und es ist mehr als der sprachliche Ausdruck, der die Falschinterpretation der PKS begünstigt. Kleine Details in der grafischen Darstellung unterstützen bestimmte Eindrücke ebenfalls: Die Zahl der polizeilich erfassten Wohnungseinbruchsdiebstähle im Stadtgebiet Wuppertal war zwischenzeitlich von 842 (2013) auf 776 (2014) um 7,8 Prozent gesunken, die augenfällige Balkengrafik suggeriert dem flüchtigen Betrachter jedoch eine Abnahme um die Hälfte. Der einfache Grund: Die nach oben zeigende Y-Achse beginnt nicht am Nullpunkt, sondern bei 700 – zu sehen sind also nur die Spitzen der Balken, so dass die kurzfristige Abnahme um 66 Einbrüche entsprechend gewaltig erscheint.
Politiker bedienen sich solcher Effekte gern, um die Argumentation für eigene Ziele zu untermauern. Auch für das Wuppertaler Polizeipräsidium ist die PKS anscheinend Mittel der Eigen-PR. »Bei 344 Fällen (44,3%) blieb es beim Versuch, weil die Täter die vorhandenen Sicherungseinrichtungen nicht überwinden konnten«, ist unter dem Punkt Wohnungseinbruch in der Pressezusammenfassung zu lesen. Klingt logisch; auf Nachfrage räumt die Behörde allerdings ein, eigentlich gar nicht zu wissen, warum die Einbrüche nicht zu Ende geführt wurden – man unterstelle den Zusammenhang zwischen guten Fenstern und abgebrochenen Einbruchsversuchen schlichtweg. Hinter vorgehaltener Hand begründen Kriminalisten aus der Praxis die auch in anderen Städten hohe Zahl von Tatabbrüchen beim Wohnungseinbruch hingegen nicht allein mit guten Schlössern, sondern auch damit, dass sich das Täterverhalten geändert hat. Wo Einbrecher früher noch minutenlang versucht haben, eine Wohnungstür aufzuhebeln, um an hochwertige Elektrogeräte zu kommen, wissen sie heute, dass die billige Massenelektronik im Wohnzimmer kaum noch das Risiko wert sein kann, den Schraubenzieher mehr als dreimal am Schließblech anzusetzen. Springt die Tür nicht schnell auf, geht’s weiter zum nächsten Ziel.
Noch in der vorausgegangenen talwaerts-Ausgabe hatte die Polizei zur Fahrraddiebstahl-Statistik verkündet: »Wir spekulieren nicht.« Die Fakten zeigen, dass das nicht stimmt. Viel besser als schwammige Vermutungen eignen sich klare Erfolgsmeldungen dazu, die eigene Arbeit zu feiern – auch wenn sie nur behauptet sind. Die aus Düsseldorf angeordneten und immer wieder kritisierten Präventionskonzepte »Wachsamer Nachbar« und »Riegel vor!« gegen Einbruch hält man an der Wuppertaler Friedrich-Engels-Allee zumindest offiziell für zielführend: »Der Rückgang der Wohnungseinbruchdiebstähle und die Anzahl der im Versuch gescheiterten Straftaten lässt vermuten, dass die landesweite Kampagne gegen den Wohnungseinbruch ›Riegel vor!‹ auch 2014 Wirkung gezeigt hat.« Evaluationen oder Untersuchungen nach anerkannten Kriterien, die diese Vermutung stützen, kann die Polizei indes selbst auf Nachfrage nicht liefern. Stattdessen heißt es: »Letztlich sind es … Rückschlüsse«. Seltsam nur: Während die Einbruchskriminalität in Wuppertal tatsächlich kurzzeitig etwas gesunken war, stieg sie in anderen NRW-Städten rapide an – obwohl auch dort »Riegel vor!« umgesetzt wird. Einige Kriminalisten gingen schon bei der Präsentation der PKS 2014 im März davon aus, dass der Einbruchsrückgang an der Wupper nur vorübergehend sein würde und nichts mit »Riegel vor!« zu tun hatte. Wie Ende Juli bekannt wurde, sind die Wuppertaler Einbruchszahlen im ersten Halbjahr 2015 verglichen mit dem Vorjahreszeitraum dann auch um satte 63 Prozent auf 582 gestiegen (1. Hj. 2014: 347) – trotz der Kampagne »Riegel vor!«, für die nachvollziehbare Wirksamkeitsbelege auch im Internet und in Bibliotheken nicht zu finden sind. Allerdings gibt es die 2013 veröffentlichte »Explorationsstudie: Förderung von kriminalpräventiven Projekten zum Eigentumsschutz durch Einsatz von ›künstlicher DNA‹« des von den Universitäten Münster und Enschede mitbegründeten Vereins »Europäisches Zentrum für Kriminalprävention«. Zu »Riegel vor!« ist dort zu lesen: »Über den Erfolg der Kampagne oder deren Evaluation liegen keine Erkenntnisse vor. Allgemein ist die Wirksamkeit von Informations- und Aufklärungskampagnen, die zur Vorbeugung von Einbruchbruchkriminalität unspezifisch an die Gesamtbevölkerung gerichtet sind, als eher gering einzuschätzen.«
Dass das Präsidium in der PKS das Gegenteil behauptet, aber nicht belegen kann, zeigt: Auch Polizei macht Politik. Der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof, Prof. Dr. Thomas Fischer, legte im Mai in seiner Rechtskolumne der »ZEIT« nahe, warum das so ist: »Jeder Rückgang der Bedrohung könnte ja als Anlass verstanden werden, die Mittel für die Ausstattung der Polizei zu verringern. Weit übertriebene Bedrohungsszenarien hingegen könnten die allgemeine Furcht übermäßig schüren und Fragen nach der Verantwortung aufwerfen.«