Niemand fand es merkwürdig, dass Georg Schlimm* am 16. Juni 1976 schon mittags das Rathaus verließ. Kurz nach dem Essen trat der adrette Mann von etwa 40 Jahren und schlanker Gestalt ohne Mantel auf die Straße vor dem Neubau am Heubruch, wo er seit knapp vier Jahren im modernen Rechenzentrum der Stadt arbeitete. Dort programmierte er eine Software für das Finanzwesen von acht Kommunen und stellte die Personal- und Sozialdaten, die Statistiken und Finanzen auf EDV um. Er galt als Genie seines Faches, gab Gruppenseminare für Mitarbeiter, hatte Zugang zu allen wichtigen Informationen seiner Abteilung. »Mal eben zur Sparkasse, Geld holen«, soll er an diesem Mittwoch zu seinen Kollegen gesagt haben. Doch zurück kam er nie. Auch seine Ehefrau Ingeborg war fortan verschwunden: Ebenfalls angestellt bei der Stadtverwaltung, seit 1970 eingesetzt im Amt für Statistik, Stadtforschung und Sonderaufgaben im heutigen Polizeipräsidium, war sie einfach nicht mehr zum Dienst gekommen. Über sie wusste man kaum etwas; außer, dass sie genau so nervös war wie ihr Mann. Beide zuckten ständig mit den Augenlidern, erzählte man sich, Freunde hatten sie keine. Am 29. Juni 1976 gab die Stadtspitze eine Suchmeldung an die Polizei.
Noch am selben Tag fiel die Kripo im Rathaus ein. Doch die Beamten waren nicht von der Vermisstenstelle. Sie kamen vom Staatsschutz und in Begleitung von Fahndern des LKA und einigen Herren der Spionageabwehr. Der Verdacht: Georg und Ingeborg Schlimm waren Agenten der DDR, in die Stadtverwaltung Wuppertal eingeschleust, um sensible Informationen nach Ost-Berlin durchzustechen. In den Barmer Verwaltungszimmern begann die Vernehmung von Behördenleuten, alle 4000 Magnetbänder des Rechenzentrums wurden auf Spuren von Spionage geprüft. Tags darauf leitete der Generalbundesanwalt in der Sache offiziell ein Ermittlungsverfahren wegen geheimdienstlicher Tätigkeit ein; gegen Unbekannt – denn schnell war klar, dass das echte Ehepaar Schlimm bereits vor etlichen Jahren von Deutschland nach Australien ausgewandert war und mit den beiden Verschollenen aus Wuppertal absolut nichts zu schaffen hatte.
Der Verdacht der Spionage gegen das angebliche Paar erhärtete sich, als die Ermittler die Eingangstür in der dritten Etage eines Mehrfamilienhauses an der Elberfelder Wortmannstraße öffneten. Sie wussten, dass der Gesuchte bei Kollegen als Hobbyfotograf galt, doch das vollausgestattete Labor in der kleinen Wohnung deutete eher auf weit ambitionierteres Fotografieren hin. Dass der Unbekannte in seiner Dunkelkammer offenbar tatsächlich jahrelang Mikrofilme entwickelt hatte, die er mit einer Mini-Kamera – in einer Sprühdose versteckt – belichtet hatte, wussten die BRD-Ermittler damals nicht. Auch von den zahlreichen Tonbändern, auf die das Alias-Ehepaar immer wieder seine Informationen für die Zentrale in Ost-Berlin diktiert hatte, fand die Spionageabwehr seinerzeit nichts mehr: Regelmäßig hatten die »Schlimms« das Material direkt in einer Wuppertaler Gaststätte, an ihrem Wohnwagen im Osterholz oder bei Reisen mit ihrem Peugeot 304 ins Ausland an Verbindungsleute übergegeben. Auch etliches weiteres Spionagewerkzeug war längst unauffindbar, obwohl sich die Spitzel beim Verstecken ihrer von der Geheimtinte bis zur Tarnbox in der Nähgarnrolle reichenden konspirativen Ausrüstung nicht immer geschickt angestellt hatten: Ein alter Gillette-Rasierklingenspender, der auf einer Gasleitung im Keller gelegen und Chiffrematerial enthalten hatte, war vermutlich schon 1970 herunter gefallen und als Abfall entsorgt worden. Ein bewaldetes Gelände, auf dem eine Mikratkamera verbuddelt war, hatten Bauarbeiter 1971 gerodet und planiert und dabei die geheime Technik auf Nimmerwiedersehen in der Erde versenkt. Nur das zum Funkempfänger umgebaute Radio, über das die Agenten seit Jahren ihre Instruktionen erhielten, fanden die Spurensicherer aus Düsseldorf neben Fotolabor und unzähligen leeren Aktenordnern noch in der Wohnung. Spione zweifelsohne; nichts indes deutete auf die wahre Identität der Gesuchten hin. Das Verfahren verlief im Sande, irgendwann wurde es eingestellt.
Knapp 40 Jahre später gibt es nun Klarheit zur Identität der beiden Agenten in Wuppertal: Früheren Geheimdienstdokumenten zufolge handelt es sich bei den Gesuchten um ein parteinahes und tatsächliches Ehepaar, das völlig bürgerlichen Berufen nachging, 1965 von der Stasi in Jena zunächst als inoffizielle Mitarbeiter (IM) angeworben wurde und nach seiner hauptamtlichen operativen Zeit zwischen 1968 und 1976 in Wuppertal mit frisierten Lebensläufen in die DDR zurückkehrte. Dass der zunächst für zwölf Monate geplante und dann fast acht Jahre dauernde Aufenthalt des Paares in Wuppertal so abrupt endete, lag an der Aufklärungsarbeit der Verfassungsschutzbehörden in Westdeutschland: Diesen war Anfang der 70er Jahre aufgefallen, dass etliche bisher enttarnte DDR-Spione mit den Personalien westdeutscher Auswanderer eingereist waren – so, wie die »Schlimms«. In der groß angelegten »Operation Anmeldung« durchforstete die BRD-Spionageabwehr seitdem die dezentralen Meldeämter in Westdeutschland nach wiedereingereisten Personen, bei denen es sich in Wahrheit ebenfalls um Agenten aus Ost-Berlin handeln könnte. Als die Stasi von dieser Aktion erfuhr, pfiff sie alle auf diese Weise legendierten Agenten zurück; die »Schlimms« erreichte das Kommando zum Rückzug am 13. Juni 1976 über ihr Funkradio, drei Tage später türmten sie. Ihre Einreise in die DDR mit dem Pkw datiert auf den 17. Juni 1976 – knapp zwei Wochen schon, bevor die BRD-Ermittler in Wuppertal tätig wurden.
Heute lässt sich nur noch in Fragmenten darstellen, was die beiden Spione seit Ende 1968 in Erfahrung gebracht haben. Klar ist: Bestimmung des Ehepaares war zu Beginn, in »zentrale Objekte im Großraum Bonn« einzudringen. Nachdem »Georg« jedoch zunächst in zwei Wuppertaler Verlagen, schließlich vielversprechend im Rechenzentrum der Stadtverwaltung Wuppertal und seine Ehefrau im Statistikamt untergekommen war, änderte die Agentenführung im fernen Stasi-Hauptquartier das Ziel. Nun sollten sie Informationen zu Bahnknotenpunkten und militärischen Orten erheben, Verbindungen zu Studenten aufbauen, selbst nah zum Meldewesen vorrücken, neue »IM-Kandidaten« an ihre Verbindungsleute melden und über das Melderegister westdeutsche Personen identifizieren, die sich ins Ausland abgemeldet hatten – vermutlich, damit die Stasi deren Identitäten wiederum zum Einschleusen neuer Agenten nutzen konnte. Doch es gab auch konkretere Aufgaben. So sollte das Ehepaar Informationen zu ganz bestimmten Personen in Wuppertal sammeln, darunter die Mitarbeiter in Meldeamt und Rechenzentrum, ein Polizeibeamter, ein Immobilienmakler, ein Fahrlehrer und ein Vermieter sowie eine Studentin, eine Hausfrau, ein Bandweber, ein Chemiker, ein Geologe und ein Industriekaufmann, die mitunter ins Ausland gezogen waren. Außerdem sollten sie ganze Persönlichkeitsbilder unter anderem von einem Stadtoberinspektor und einem Ingenieur erstellen.
Was genau aus Wuppertal an die Stasi verraten wurde, ist unklar. Vom Agentenpaar selbst ist nichts zu erfahren und die für Auslandsspionage zuständige Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) durfte ihre Dokumente nach dem Mauerfall fast komplett eigenhändig vernichten. Einer der wenigen erhaltenen Aktenvermerke zur Arbeitsleistung der Spitzel spricht allerdings für sich: »Qualität der Informationen entsprechend den Vorstellungen der Zentrale und decken voll den Informationsbedarf. Informationen werden durchweg als wertvoll bis sehr wertvoll eingeschätzt.«
* Die Namen wurden von der Redaktion geändert.